Angesichts der Anwesenheit hunderter Mobiltelefon-Kameras brauchte es nicht erst unsere Kamera, um die 700 Meter lange Tafel auf Istanbuls Einkaufsmeile Istiklal zur Bühne zu erklären. Das Als-ob- Spiel, das die tradierten Verabredungen umdeutet, findet hier auf einer anderen Ebene statt: Die muslimische Praxis des gemeinsamen Fastenbrechens nach Sonnenuntergang während Ramadan fungiert hier, wenige Tage nach Wiedereröffnung des umkämpften Gezi-Parks, als geschickte Verwischung der Grenzen von politischer Demonstration und ritueller Praktik. Diesmal fiel es der aufmarschierten Polizei schwer, die Versammlung mit Tränengas aufzulösen. Schließlich ist es die von den Demonstranten bekämpfte Regierungspartei AKP unter Ministerpräsident Erdogan selbst, die sich um die verstärkte Einhaltung muslimischer Lebensformen bemüht. Schon während der Gezi-Park-Proteste hatte sich das Theatrale als politisch-reale Praxis bewährt: Statt gewaltsam zu protestieren verharrte der als „standing man“ berühmt gewordene Choreograph Erdem Gündüz stundenlang bewegungslos auf dem Taksim-Platz und inspirierte damit tausende zur Nachahmung.